Thesing, Th. (2009). Betreute Wohngruppen und Wohngemeinschaften für Menschen mit geistiger Behinderung. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Thesing stellt in dieser vierten Auflage des Buches Ergebnisse seiner Untersuchung von Wohngruppen und Wohngemeinschaften für Menschen mit geistiger Behinderung vor. Das Besondere an der Studie ist der Untersuchungszeitraum: Thesing hat hierzu 1988/89, 1997 und 2009 Befragungen durchgeführt, die Ergebnisse miteinander verglichen und in einen zeitlichen Bezug (Veränderungen der fachlichen Standards, politische Veränderungen etc.) gesetzt. Nach einer Einführung in das Thema, in der neben einem Überblick des aktuellen Forschungsstands auch Richtlinien zuständiger Ministerien dargestellt werden, geht Thesing auf die Bedeutung des Wohnens für den Menschen ein. Hierzu wählt er einen phänomenologischen Zugang. Im Anschluss daran spezifiziert er diese Ausführungen auf die Leitideen und Prinzipien des Wohnens behinderter Menschen, geht dabei auf ältere und neue Konzepte wie Community Care, Inklusion, Persönliches Budget ein. Der daran anschließenden Entwicklung verschiedener Wohnformen in Deutschland und einer ausführlicheren Übersicht über die diesbezüglichen Richtlinien und Veröffentlichungen von Ministerien und öffentlichen Trägern folgt ein äußerst spannender Abschnitt über die Wohn- und Lebensbedingungen in betreuten Wohngruppen.

Thesing vermittelt einen differenzierten und interessanten Einblick in die Entwicklung des Wohnens (geistig) behinderter Menschen in Deutschland und die Entwicklung und Veränderung der Wohnangebote. Einziges Manko bleibt dabei, dass die Ausführungen zu qualitativen Fragestellungen nicht auf den Antworten von Adressaten der Leistung selber, sondern auf den Antworten von Leitern der befragten Wohngruppen beruht. Der Einbezug der Bewohnerperspektive im Sinne einer groß angelegten Bewohnerbefragung zum subjektiven Empfinden der qualitativen Umständen der individuellen Wohnsituationen würde die Ausführungen des Buches (vielleicht an manchen Stellen sogar komplementär) sicherlich bereichern und weitere Entwicklungslinien aufzeigen können.

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Erlernte Hilflosigkeit

- Hilflosigkeit und Apathie können erlernt werden: Leben Menschen in Institutionen, in denen alle Entscheidungen abgenommen werden, entwickeln sie entsprechendes Verhalten

- Abnehmen von Entscheidungen, Handeln ohne Erfolg oder Konsequenz haben Auswirkungen auf die Motivation und die Kognition (vgl. Deci &Ryan: Selbstbestimmungstheorie der Motivation): "Verliert der Mensch die Kontrolle über die Konsequenzen seines Verhaltens, so erlebt er sein Handeln als unsinnig, dies verringert seine Motivation zum Handeln, er reagiert apathisch und hilflos." (S. 176)

- Einfluss auf die Kognition: Nach Erfahrung der Unkontrollierbarkeit hat der Mensch Schwierigkeiten wieder zu lernen, dass seine Reaktionen einen Einfluss haben

- Glaube, dass Erfolg und Misserfolg unabhängig vom eigenen Können sind

- Bewohner in Institutionen sollte ein größtmögliches Maß an Selbsttätigkeit und Selbstentscheidung erhalten bzw. ermöglicht werden

- Selbstbestimmung und Gestaltungsmöglichkeiten sind daher nicht nur pädagogische Ziele auf Grundlage eines Menschenbildes, das den autonom handelnden individuellen Menschen im Blick hat, sondern eine wesentliche Voraussetzung für die psychische Gesundheit des Menschen und damit für seine physische Existenz (S. 176)

 

Thesing, T. (2009). Betreute Wohngruppen und Wohngemeinschaften für Menschen mit geistiger Behinderung. Freiburg im Breisgau: Lambertus.